Zum sagenumwobenen Verschwinden von Selschen, einer untergegangenen Siedlung am Nordhang bei Neu Ummendorf, rankten sich viele mystische Schilderungen. So wäre der Untergang in den Fluten des Sees als Strafe über die Menschen gekommen, weil sie einen ausschweifenden Lebenswandel führten. Aber auch andere Varianten bereicherten den Fundus der Erzählungen.
Seit vielen Jahren animiert dieser Wüstungsort immer wieder Interessenten, sich mit den historischen Gegebenheiten zu beschäftigen. Bei näherer Betrachtung der über Selschens Untergang verbreiteten Vermutungen stellte sich eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit der Vineta Sage heraus. Diese alte Sage liefert ein pauschales Erzählmuster aus dem Ostseeumfeld, welches bei Bedarf in anderen Regionen in abgewandelter Form auftaucht. Wie hier bei Selschen.
Das Sagenbild für Selschen dient als bildhafte Begründung, entspricht aber nicht der Realität.
So widmet sich Kantor Bock aus Emden in der 1920 erschienen "Heimatkunde des Kreises Neuhaldensleben" in dem Artikel "Das Selensche Bruch" im Abschnitt "Vom Selenschen See" ebenfalls der hiesigen Sagenwelt. Er schreibt:
"Auf den westlichen Höhen des Selenschen Bruches lag einst das Dorf Seelschen. Reizend war es gelegen und blickte weit in die Runde. Die Bewohner gelangten zu einem gewissen Wohlstande. Aber mit dem Reichtum kam auch bald Üppigkeit und Übermut ins Dorf. Die Gottlosigkeit nahm überhand, Dafür traf das Dorf aber bald der gerechte Zorn Gottes. Eines Tages wurde es wie einst Sodom und Gomorrha von der Erde verschlungen, Ein mächtiger See bedeckte seine Stätte. Aber in dem versunkenen Dorfe herrschte noch immer wundersames Leben. Bei stillem Wasser und klarem Wetter wollen die Fischer der umliegenden Dörfer die Gassen und Gebäude dieses Dorfes auf dem Grunde des Sees gesehen haben. Wenn sie dann heimgekommen sind, haben sie ihren Kindern von dem untergegangenen Dorfe als warnendes Beispiel erzählt, wie es für Üppigkeit und Abgötterei bestraft worden ist. Auch seine Glocken sollen leise geklungen haben. Die eine dieser Glocken soll später, als der See abgelassen war, gefunden worden sein und im Turme zu Uhrsleben hängen, Bei Sturm und in der Nacht sind die Fischer nicht gern über diese Stelle des Sees gefahren."
Aus des Sees tiefem, tiefem Grunde
klangen Abendglocken dumpf und matt,
und sie gaben wunderbare Kunde
von des alten schönen Dorfes Statt.
In dem See ging plötzlich es zu Grunde,
doch die Trümmer blieben unten stehn,
und man hat zu mancher, mancher Stunde
Seelschens lieblich Bild dort einst gesehn.
Und der Fischer, der den Zauberschimmer
oftmals sah im hellen Abendrot, -
von dem Dorf erzählt er warnend immer,
weil es gottlos, ward's gestraft von Gott.
und sie gaben wunderbare Kunde
von des alten schönen Dorfes Statt.
In dem See ging plötzlich es zu Grunde,
doch die Trümmer blieben unten stehn,
und man hat zu mancher, mancher Stunde
Seelschens lieblich Bild dort einst gesehn.
Und der Fischer, der den Zauberschimmer
oftmals sah im hellen Abendrot, -
von dem Dorf erzählt er warnend immer,
weil es gottlos, ward's gestraft von Gott.
Der in Erxleben einst wohnhafte
Studienrat Rudolf Peisker hat sich mit Leidenschaft den Heimatsagen seines
Umfeldes gewidmet und dazu viele Beiträge in der lokalen Tagespresse
veröffentlicht, aber auch kleine Bröschüren mit heimatlichen Geschichten und
Überlieferungen augestattet. Aus dem Werk "Unse Dörper in Freud und
Leed" aus dem Jahr 1984 ist diese gelungene plattdeutsche (ostfälische)
Schilderung der Sage vom Untergang des Selschen Sees entnommen:
„Wenn’t ook mancher von jüch nich
glöben will: Man kann sülwest in sienen ollen Dagen noch taulehrn! – Da falle
mick doch vorr einier Tiet ‚ne olle Flurkaarte von unse LPG in de Hänne, dä
mott woll glieks in’ne erten Jahre von de Genosenschaft noch vorwennt worden
sein, denn da stunn’n noch de Namen von allen lüttchen Ackerbrei’n dropp. Da
jaf’t ook’n Feldstriepen, dä heite „Fischerstieg-Breite“ un lach nich wiet wech
von de Autobahn na Uhrsläh bi’t Eimersläsche Vorrwark. Fischerstieg-Breite –
düsser varflixte Name junk nich weer ut mien’n Kopp ruut, denn ick konne mick
nich arklären, warum de Breie so eheiten harre. Et jaft doch in’n Seelschen
Brauke keine Stidde, wo’n Fische fängen konne.
Enet schönen Dages da löppt mick
de Kanter Daul bie’n Borchgraam öwwern Wech. Du kümmst mick gerade richtich,
denke ick glieks, denn mick falle sofort weer de Fischerstieg-Brei in. – „Nu
höre mal, Kanter“, sejje ick, „du hast doch lange nauch studiert, also moßte
ook wetten, warum de Fischerstieg-Breie so hett, ook wenn da gar keine Fischer
tau seihn sünd.“ – De Kanter Daul lächelte un meine, datt harre mit Studier’n
nich veel tau dauhn. Weil hei sick aber for Heimatgeschichte intressiere, könne
hei mick schon bewiesen, datt de Ackername tau Recht bestund.
Un dann hat hei mick ‚n groten
Vorrtrach eholl’n, un nu war mick alles klar. Stellt jüch vorr, Lüe, datt war
so:
De ganzen Wischen unn Felder
vorn’n Seelschen Brauke war’n mal’n grooter See, dä wiet öwwer dausend Hektar
Land innenomm hemm’n soll. Siene eine Hälfte jehöre de königlichen Domäne
Ummendorp, unn von de andere Hälfte war’n Alvenslähschen Adlijen de Harr’n.
Disse Junker setten nun sechs Fischer opp’n See, dä dann öhren Fang nah de
Borch bringen moßten. Darum eben hett de Wech von’n Brauke runder nach Arxläh de
„Fischerstieg“. Unn weil de Adlijen vorr Langewiele nich wußten, watt se maaken
sollt, kahnte se mit Gondeln öwwern Seelschen See. Opp’n hütigen Nettelbarch, dä seine Spitze
dunnemals wie ‚ne Insel ut’t Water kieken laate, hett se sick saugar ‚n
Lusthüseken ebuut.
Doch de Tiet lope ümmer wieder,
un so nah un nah verlor’n disse Haarschaften de Lust an de Gondelije. Ick will
jüch ook sejjen, warum. De riesengroote See war nämlich mittlerwiele ümmer
lüttcher ewor’n, denn seine Ränder warn mit Schilf unn Waaterplanten mehr un
mehr tauewussen. Datt Waater aber wöhre moddrich und funk an te stinken. – Unn
eines Dages, 1720 war’t, junk’t ‚n See an’n Kragen. Da secht doch de Könich von
Preußen, dä ja de Ummendörpsche Domäne harre, kort unn bundich tau de Alvenslähschen
Junker: „Mit den ollen Seelschen See hewwe ick de Näse vull. Wett’t jie watt?
Ick laate miene Hälfte aff, mit jue könnt jie maaken, watt jie willt.“ – Na ja,
watt woll’n dä sick schon dajejen opp de Hinderbeine stell’n. Hei war
schließlich de Könich, unn sei war’n bloß’n paar lüttche Adlije, unn so kam’t,
datt de ganze See dröch elecht word, wenn disser ook noch ‚ne Länge von fünfe
Kilometer oppwiesen konne….
Jie seiht also: Olle Kaarten,
Bilder, Urkunden, Zeitungen unn Bäuker mott’n nich wechschmiet’n. Unse Museum
in Halnsläh, de Schaulen unn unse Heimatforscher freu’n sick ok darower.“