===> VOM SEE ZUM BRUCH

Vom Selschen See zum Seelschen Bruch
In der großflächigen Bodensenke sammelte sich in grauer Vorzeit Niederschlagswasser aus einem Einzugsgebiet von über 6.000 Hektar. Es entstand ein abflussloser großer See, der noch zu Beginn des 19. JH eine Fläche von 770 Hektar besaß. Drei Anlieger verwalteten im Mittelalter darauf die Fischerei. Herren der Burg Ummendorf verfügten über den größten Anteil, gefolgt von Erxleber Grafen und Klosteraussenhof Hakenstedt. Beide großen Häuser beschäftigten je sechs Pachtfischer, der Hof Hakenstedt drei.
Mit der Zeit nahm Schilfbewuchs zu, es entstanden dichte Schilfhorste und sinkender Wasserstand behinderte zunehmend die Fischerei. Als Engpässe bei der Versorgung der herrschaftlichen Küchen mit frischem Fisch drohten, einigten sich die Häuser Ummendorf und Erxleben 1550 auf die Schaffung eines künstlichen Stauwehres am Reiherhals. Noch 1660 wird der Seelsche See auf einer Landkarte des Bistums Magdeburg als größtes Gewässer im Bistum erwähnt. Doch bereits nach weiteren sechs Jahrzehnten war seine Verlandung soweit fortgeschritten, daß im Zuge eines königlichen Erlasses 1719 seine Trockenlegung begann. Der damalige Restsee hatte noch eine Länge von fünf Kilometern. Selbst nach Abschluss der Trockenlegung existierten längere Zeit fischbare Tümpel und Siele. Seit dem entwickelte sich hier eine Oase heimischer Natur. Flora und Fauna genießen unter optimalen Verhältnissen unvergleichliche Möglichkeiten der Entfaltung. 

Selscher See – als Lieferant
Neben reichlich Fisch und Wildenten lieferte der See über Jahrhunderte Schilfrohr für Dacheindeckungen, Hausbau und als Brennmaterial. Zum jährlichen Schilfschnitt kamen im Winter bei strengem Frost Dorfbewohner zusammen, die mit Schnittwerkzeugen und Schlitten hinaus auf den See zogen. Peter Wilhelm Behrends schildert das Ritual des Schilfschnitts in Hakenstedt in seiner „Neuhaldensleber Kreis-Chronik“ Teil II: „Bis zum 18. Jahrhundert hin benutzte Hakenstedt seinen Theil des nahe liegenden Selschen Bruches zum Rohrschnitt. Und dieses konnte nicht anders als bei eingetretenem Frostwetter, durch sogenannte Rohreisen, gewonnen werden. Auf ein, durch den Schöppen mit der kleinen Glocke gegebenes Zeichen eilten dann alle Einwohner mit dem genannten Instrumente zum Bruche, um das ihnen angewiesene Rohr zu schneiden; wobei aber die Arbeiter doch oft in Gefahr gerieten zu ertrinken.“
Von Ummendorfer Burgherren ist bekannt, daß ihre Untertanen eine Sollabgabe für das zu schneidende Schilf erhielten. Falls der See nicht zu betreten war, verdoppelte sich die Abgabe im nächsten Winter.  

Selscher See – Ausdehnung
Von Ovelgünne aus erstreckt sich das Niederungsgebiet des Selschen Bruches in nordwestliche Richtung bis zum Reiherhals auf über 6,5 Kilometer Länge. In Ovelgünne beginnt auch der um 1720 angelegte Hauptgraben, der sich mit dem aus Hakenstedt kommenden natürlichen Bruchgraben vor dem Reiherhals vereint. Unterhalb des Hügelkamms zwischen Ovelgünne und Neu Ummendorf verlief einst die südliche, fast gradlinige Uferlinie. Weite Ausbuchtungen weist dagegen die nördliche Uferlinie in Nähe des Hohen Weges auf. Im großen Flachwassersee ragte einst als kleine Insel der 123,4 Meter hohe Nettelberg mit seiner Schutzhütte für Fischer hervor. Mit ca. 119 Metern erreicht das Niederungsgebiet seine tiefste Stelle. Demzufolge pendelte der maximale Wasserstand zwischen drei und vier Metern. Zur maximalen Ausdehnung in Vorzeiten geben Lesefunde Auskunft, die anhand von Muschelvorkommen die historische Uferlinie bei 130 Metern ausweisen.

Seelsches Bruch – als Naturparadies
Mit Trockenlegung ab 1720 entstanden mit Gräben durchzogene ausgedehnte Wiesenflächen sowie  Baum- und Strauchbewuchs in einigen Bereichen. Hier kam es bei freier Entfaltung natürlicher Ressourcen zur Entwicklung  einer besonderen heimatlichen Ansammlung von Tieren und Pflanzen.
Naturkennern und Heimatforschern bietet das Seelsche Bruch seit eh und je eine große Palette an interessanten Fakten und historischen Zeugnissen. Allein Karl Schlimmes Aufzeichnungen, unser regionaler Heimatforscher und Naturfreund, in der
„Jahresschrift der Museen des Landkreises Börde“ 2007 mit dem Titel „Das Selsche Bruch – Beobachtungen aus sechs Jahrzehnten“, sollte bei Betrachtungen zum Seelsches Bruch nicht fehlen. Seine umfangreichen Beobachtungen und Schilderungen, die er in einer ihm eigenen akribischen Präzision darlegt, vermitteln einen erhellenden Einblick in eine ungestörte Natur, deren heute noch vorhandenen Restbestände unbedingt vor weiteren Schädigungen zu bewahren sind.  

Seelsches Bruch – Trockenlegung
Große zentralistische Beschlüsse der überstandenen Gesellschaftsform trugen zur weiteren Trockenlegung des Seelschen Bruches bei. So fanden allein im Niederungsgebiet des Bruches zu Beginn der 1950er Jahre massive Meliorationsvorhaben statt, bei denen 610 Kilometer Drainageröhren 70 cm tief in die Erde kamen. Eine Fläche von 1.000 Hektar sollte dauerhaft für den Anbau von Kulturpflanzen zur Verfügung stehen. An eine Umweltverträglichkeit dachten die staatlichen Lenker nicht. Auch damals bestimmte eine politische Ideologie das Geschehen, womit auf Dauer dem Seelschen Bruch mehr Schaden als Nutzen zugefügt wurde.
 
Seelsches Bruch –  Folgen
Jahre der Kollektivierung der sozialistischen Landwirtschaft und Großfelderwirtschaft folgten, die dem Naturschutz ebenso wenig Aufmerksamkeit schenkten. Im Gegenteil. Mit Vernichtung von Feldwegen, Weihern und kleinen Gräben wurde vielen heimischen Tieren und Pflanzen die Lebensgrundlage entzogen. Wer immer noch eine Nische fand, durfte die chemische Keule spüren, wenn es in den ersten Jahren zur ungezügelten Ausbringung von Herbiziden, Fungiziden und anderen Chemikalien kam.
Auch mittlerweile gewachsenes Umweltbewusstsein führt nicht zwangsläufig zur Schonung unserer heimischen Natur. Unser besonderes Augenmerk gilt Regenwald und Polkappen, dabei sind wir gerade heute noch in der Lage, vor der eigenen Haustür mit Natur- und Umweltschutz endlich zu beginnen.
 
aktualisiert 12/2023