Am westlichen Ortsrand Hakenstedts öffnet sich das weite Seelsche Bruch mit seiner sagenhaften Historie. Viele Geschichten um den verschwundenen See, Glockenborn oder Nettelberg bereichern unseren Sagenschatz. Am Bruchweg wecken betagte Pappeln Erinnerungen an eine längst verflossene Zeit. Das Seelsche Bruch in seiner Vielfältigkeit von Weide- und Feldflur mit kleinen Waldungen und Buschwerk, durchzogen von diversen Gräben, ist ein besonders schützenswertes Biotop vor unserer Haustür.
Seit Jahrzehnten sorgen menschliche Eingriffe für eine buchstäbliche Verödung des einstigen Feuchtgebietes. Meliorationsaktivitäten, fortschreitender Klimawandel und seit geraumer Zeit eine periodisch wiederkehrende Einbringung von Gärresten und Gülle in einigen Arealen, verbessern nicht gerade die natürlichen Bedingungen.
Noch vor Jahrzehnten war im Seelschen Bruch eine große Vielfalt heimischer Tier- und Pflanzenarten zuhause. Darüber veröffentlichte der regional bekannte Naturkundler und Heimatforscher Karl Schlimme einen Artikel in der „Jahresschrift der Museen des Landkreises Börde“ Band 47. Unter der Überschrift „Das Seelsche Bruch – Beobachtungen und Erlebnisse über sechs Jahrzehnte“ schildert er auf 23 Seiten vielfältige Erkenntnisse und Beobachtungen. Seine lesenswerten Texte liefern nicht nur erhellende Feststellungen aus Flora und Fauna, sondern auch zu Wüstungen und Lesefunden im Umfeld des Bruches. Daneben berichtet der Autor von Begegnungen mit heimatlich verwurzelten Personen.
Karl Schlimmes Besuchszeitraum im Seelschen Bruch erstreckte sich von 1939 bis 2006, doch erst Anfang der 1990er traf er einen passionierten Kenner des Seelschen Bruches in Hakenstedt. Beide Männer verband ein gemeinsamer Nenner, die heimatliche Natur. Sie trafen sich mehrmals in Hakenstedt zu unterhaltsamen Gesprächen, wovon Karl Schlimme mehrseitige Gedächtnisprotokolle anlegte. Ihnen vertraute er das Gehörte an und ergänzte sie gelegentlich um seine Interpretation.
Zitate aus mehrseitigen Gesprächsprotokollen, die das Stadt- und Kreisarchiv Haldensleben aufbewahrt, bilden die Basis dieser Präsentation.
Mit abschließender Würdigung seines Gegenübers bringt Karl Schlimme in wenigen Worten eine einzige Sequenz aus dem Leben seines Gesprächspartners genau auf den Punkt.
Mit Präsentation öffentlich zugänglicher Aufzeichnungen steht es jedem Leser frei, das niedergelegte Handeln der beschriebenen Person unter Zugrundelegung damaliger Lebensverhältnisse gerecht und ausgewogen zu beurteilen.
Das Tun in vergangen Zeiten nur aus heutiger Sicht bewerten zu wollen, wird keinem gerecht.
Es folgen einige Zitate aus Karl Schlimmes Ausführungen:
„1991 lernte ich ihn kennen. Acht eng beschriebene Schreibmaschinenseiten liegen heute vor mir, Gedächtnisprotokolle, entstanden nach langen Gesprächen. 81 war er da. Aufregender Lebenslauf der mir da wieder einmal unter die Feder kam.Sein Reich lebenslang das Seelsche Bruch. In Uhrsleben geboren war er hier schon als Kind zum Wilderer geworden.
Geistig voll da. Sprudelnde Quelle konkreter Erinnerungen. Sympathischer Mensch.“
An anderer Stelle:
„Bis auf „Eiserne Hüfte“ körperlich noch recht rüstig.
Geboren in Uhrsleben. Der Vater starb früh. Mutter mit 2 Kindern allein. Kein Geld. Nichts auf dem Tisch. Er – Ältester – zog da mit dem Hund los. Brachte immer was. „Um Zwölf lagen die blanken Knochen schon auf dem Mistberg“…. So kam er zum Wildern.
Alle Gespräche führen wir in Platt. Ein Erlebnis auch das mit ihm. Lebenslang war er Wilddieb. Darauf ist er stolz. Dazu bekennt er sich.
Wir saßen bei ihm zuhause auf dem Hof in der Sonne, tranken Flasche Bier, er erzählte.
Er war in bester Verfassung und Stimmung, lustig, laut, temperamentvoll.
Ich konnte unheimlich gut Schlittschuh laufen. Manches Reh – auch Hasen – auf dem Eis mattgemacht und erlegt. Enten mit Netzen an Eislöchern gefangen.
Seine Hunde kriegten jedes Reh, wenn er das Kommando gab. Viele Füchse hat er mit den Hunden gefangen.
Erzählt wie er einen besonders kräftigen Dachs fing. Dem waren auch seine Hunde nicht gewachsen.
Zuerst kam der eigene Stock. Meine Würfe waren immer sehr treffsicher und erfolgreich …
Dann die Hunde. Ich hatte immer flinke Hunde. Das war entscheidend. Waren Hasen oder Füchse da, der Hund sah nur auf mich. Gab ich das Zeichen, zog er los. Er holte Hasen, Füchse, Rehe …
Er frettiert zwischen Ovelgünne bis um die Mühle in Ostingersleben. Manche Jahre auch bis 36 Füchse erlegt. Einen Hund hatte er, der holte jedes Reh.
Meist im Abend, im Düstern gegangen. Nur an den Wechseln angesetzt. Früh manchmal draußen, der Nebel lag flach über den Wiesen, die Rehe zogen, die Köpfe sahen nur mit dem Gehörn darüber hinweg.
Bei Hasenjagden der alten Herren im Lande war er als Treiber dabei. Er konnte es nicht lassen. Er warf dabei mehr Hasen mit seinem Stock, als mancher Schütze mit seinem Gewehr erlegte. Sehr schnell verbot man ihm das Werfen.“
Weiter:
„Mensch, dessen ganzes Leben mit dem Seelschen Bruch verbunden war und das erkennt wie kaum ein Zweiter.
Viele Nächte hat er im Seelschen Bruch verbracht, draußen geschlafen und auch immer – beobachtet.
Kennt Jägersprache auch gut. Spricht natürlich bei Fasanenfamilie vom Gesperre!
Alle Gespräche führen wir in Platt. Allein das ein Erlebnis.
In der Kriegsgefangenschaft hat er stricken gelernt. Von Fischern – Fischernetze. Später zuhause habe ich oft gestrickt. Viel Spaß daran gehabt. Alle meine Netze zum Frettieren selbst gestrickt.
Ideenreich war er immer.
Ist vielseitig interessiert. Kennt alte Siedlungen. So auch Wüstung Dodendorf. Beschreibt sie genau. Hat überall Funde gemacht. „Et Brauk“ – sein lebenslanges Reich. Er hier der heimliche König.
Verliebt in das Seelsche Bruch. Er schwärmt. Schwärmt von den Zeiten seiner Jugendjahre, wenn sie mit Schlittschuhen von Hakenstedt bis Reiherhals und weiter bis Belsdorf und dann die Aller vorbei an Wefensleben bis Ummendorfer Schäferei liefen. Wasser soweit man sah und Eis …
Er kennt große archäologische Fundstelle im Bruch westlich des Nesselberges. Und er kennt noch die Ruinenreste des „Fischerhauses“ der Grafen. Stand direkt am Westhang der Insel, da wo heute noch die großen Weiden stehen.
Natürlich war ich bekannt. Man war immer hinter mir her. Einmal wurde ich gefesselt abgeführt. Man stellte meine Wohnung auf den Kopf. Suchte die Waffen, die man vermutete.
Ein harter Mann. Zweifellos. Und doch auch ein sympathischer Mann. Wunderbar unsere Gespräche im vertrauten Ostfälisch, sein Gebrauch der Jägersprache. Vielseitig interessiert ist er. Von ältesten versunkenen Siedlungen spricht er, von dramatischen Jagd-Episoden, vom alten Moor, vom Eisvogel, von Eulenbruten, Greifvogelfang, von reichen früheren Niederwildstrecken von denen wir heute nur träumen können, von Dachsen, die damals noch von Sol zu Sol liefen, von Lerchen („der Himmel war damals grau von Lerchen“) von den vielen Kiebitzen, den Großen Brachvögeln und einer letzten Brut hier, von den hier zahlreichen brütenden Bekassinen einst, vom Entenfang an Eislöchern …“
Karl Schlimmes Resümee zum Kenner des Seelschen Bruches:
„D e r Wilddieb der Börde, der letzte, echte, große. Zuhause in Hakenstedt.“
Mein besonderer Dank gilt dem Stadt- und Kreisarchiv Haldensleben für die freundliche Erlaubnis zur Verwendung der Zitate. Bernd Gehre / 2023